6 – Anreden, Komposita und was sonst noch wichtig ist

Anreden und Formen, um ‚alle‘ anzusprechen bzw. zu benennen

Es gibt keine allgemeingültige Anrede, wie z.B. ‚Liebes Publikum‘ oder Formen, um ‚alle‘ gleichermaßen anzusprechen bzw. zu benennen (wie z.B.: alle, Personen oder Menschen, vgl.Kapitel 3). Durch diese Versuche werden → strukturelle Ausschlüsse und soziale Ungleichheiten nicht explizit gemacht, sondern ent_erwähnt. Strukturelle Ausschlüsse spielen aber in allen Situationen eine Rolle. Welche Personen können z.B. an einer Veranstaltung teilnehmen, welche nicht, wenn es nur lautsprachliche Kommunikation und keine Gebärdenübersetzung gibt oder wenn sie in einem Teil der Stadt stattfindet, in dem häufig → rassistische Übergriffe verübt werden? Welche Assoziationen mit welchen Personen werden bei einzelnen Begriffen aufgerufen, die andere ausschließen, z.B. wenn Personen, die gehörlos sind, unter ‚liebe Zuhör_erinnen’ subsummiert werden? Welche Personen sind dahingehend → privilegiert, dass sie in einem spezifischen Kontext als Personen adressierbar sind, z.B. wenn Personen, die → ZweiGenderung nicht infrage stellen, mit der Anrede ‚sehr geehrte Damen und Herren’ begrüßt werden?

Anstelle von generalisierenden Formen sollen die betreffenden Personen möglichst konkret benannt werden, ohne jedoch → Positionierungen aufzurufen, die in einem spezifischen Kontext nicht relevant sind – und ohne nur diskriminierte Positionierungen aufzurufen und privilegierte weiterhin entnannt zu lassen.

Beispiel: ‚Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin Mandelzweig, liebe Vizepräsidenten Meier und Ahmed‘

Diese Anrede stellt Vizepräsidx Mandelzweig als weiblich her, die anderen implizit als männlich. Dies ist eine exklusive weibliche → Genderung, die so in einem Kontext als relevant hergestellt wird, in dem sie es vielleicht nicht ist. Weiblichkeit und Männlichkeit werden hier gleichzeitig auch als die einzigen beiden Möglichkeiten einer Zuordnung hergestellt. Hier könnten x-Formen in bestimmten Situationen sinnvoll sein, z.B. wenn es nicht gleichzeitig darum geht, deutlich zu machen, inwiefern → frauisierte Personen gegenüber Männern in bestimmten Statusgruppen unterrepräsentiert sind. Es ist zu überlegen, ob dies noch expliziter gemacht werden kann. In bestimmten Situationen können x-Formen auch davon ablenken, dass es in der Situation eine männliche Dominanz gibt, die es wichtig wäre konkret zu benennen, um sie zu skandalisieren, herauszufordern, zu kritisieren.

Anreden sollten ebenfalls konkret in Abhängigkeit davon gewählt werden, welche Personen adressiert werden und wie sich diese selbst benennen. Dabei lassen sich die oben genannten Sprachformen anwenden oder es können folgende
möglichst mehrere Personen ansprechende Varianten ausprobiert werden: liebe alle…; hallo…; selbstgewählte Namen; dear…; hey ihr…; guten Tag…

Auch hier ist immer wieder für jede einzelne Situation zu überlegen, inwiefern was relevant ist und inwiefern neutralisierende Formen auch wieder dazu führen, nicht wahrzunehmen, dass → strukturelle Diskriminierungen auch in der Anrede wichtig sein können in einer Situation und Gesellschaft, die z.B. durch → Sexismus oder Genderismus geprägt ist. Es ist also immer zu überlegen, wie zwischen den folgenden Fragen entschieden wird: Möchte ich möglichst viele ansprechen? Welche sind die ‚vielen‘, die ich anspreche? Wie mache ich dies? Wie verdeutliche ich verschiedene Kriterien in der Ansprache?

sprachleitfaden_ayimMay Ayim war eine Schwarze deutsche Dichterin, Wissenschaftlerin, Pädagogin und anti_rassistisch – anti_genderistische Aktivistin. Schwarze Aktivistxs machen seit Jahren darauf aufmerksam, dass es keine Erinnerungs- und Gedenkorte für anti_rassistische Aktivistxs und ihren Widerstand gibt. Mit dem Plakat auf dem Foto wird für die Schaffung solcher Orte interveniert.

Pseudoneutralisierende (pseudogenerische) Wortformen

Häufig wird versucht, antidiskriminierend zu formulieren, indem auf vermeintlich neutrale (pseudogenerische) Substantive wie ‚Gast‘ und ‚Mitglied‘ zurückgegriffen wird oder es werden zusammengesetzte Substantive mit den Endungen ‚ -person‘ und ‚-kraft‘, wie z.B. in Lehrperson oder Lehrkraft, genutzt. Wie schon weiter oben beschrieben sind das keine optimalen Lösungen, da sie ausschließende Assoziationen aufrufen und → strukturelle Ungleichheitsverhältnisse entnennen oder ent_erwähnen. Die Form ‚Lehrkraft‘ an der Uni entnennt also z.B., dass nach wie vor viel mehr männliche, → weiße, → ableisierte Personen unbefristete Lehrstellen an der Hochschule haben als Personen, die durch → Sexismus/Genderismus, → Rassismus und Ableismus diskriminiert werden. Bezogen auf den Kontext Grundschule ent_erwähnt die Form ‚Lehrkraft‘, dass dort vor allem Frauen unterrichten und das auf schlechter bezahlten Stellen und mit einer anderen psychosozialen Anforderung als an weiterführenden Schulen. Auch an dieser Stelle geht das Ausprobieren verschiedener und kreativer Alternativen weiter!

Komposita/Zusammengesetzte Substantive

In der deutschen konventionalisierten ‚Norm‘-Sprache gibt es zahlreiche zusammengesetzte Substantive, sogenannte Komposita. Im universitären Kontext kommen z.B. häufig Begriffe vor wie: Rednerpult, Forschergruppe, Experteninterview oder Benutzerschulung. Manche Komposita bezeichnen Institutionen, wie z.B. ‚Studentenwerk’ und ‚Institut für Lehrerbildung’, oder auch Wissenschaftspreise, wie z.B. ‚Publizistenpreis’. Diese Begriffe können so umformuliert werden, dass sie nicht → androgendernd sind. Auch hier können die oben aufgeführten Möglichkeiten genutzt oder weitere Varianten ausprobiert werden. Dazu wird das Substantiv, das eine diskriminierende, androgendernde Form enthält, ersetzt durch eine stärker inklusive Variante und wieder als Komposita zusammengefügt.

Wie wäre es z.B. mit: Redepult oder Vortragspult (je nach konkreter Funktion); Forschungsgruppe oder noch konkreter, wenn es um ein bestimmtes Thema geht (z.B. Diskriminierungsforschungsgruppe oder Sprachhandlungsforschungsgruppe); Expertxinterview, wenn die → gegenderte → Positionierung der Person, die das Interview gibt, keine Rolle spielt in der Aussage; Benutz_erinnenschulung, um darauf hinzuweisen, dass Schulungen auch unterschiedliche gegenderte Positionierungen mit berücksichtigen und Personen mit unterschiedlich gegenderten Positionierungen die Möglichkeit für eine Identifizierung mit der Schulung geben sollten; Studier**werk, wenn betont werden soll, dass es sich um eine Institution für Personen handelt, die studieren und Genderungen für die Handlungsweisen dieser Institution keine Rolle spielen (was in einer Gesellschaft, die → sexistisch ist, durchaus kritisierbar wäre); LehrerInnenbildung, wenn eine Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer angeboten wird und dabei → ZweiGenderung und nicht → Androgenderung als Norm gesetzt wird, weil es durchaus von Relevanz ist, zu unterscheiden, ob eine Person als Lehrer oder als Lehrerin arbeitet. Die Verwendung dieser Form diskriminiert dann jedoch gleichzeitig → Inter* und → Trans_xs, die so → zwangszweigegendert werden.

Es ist hier also immer zu überlegen, inwiefern die Neubildungen ungleiche Geschlechterverhältnisse ent_erwähnen, ZweiGenderungen re_produzieren, die Relevanz von Genderungen an sich und_oder für die konkrete Situation und den konkreten Kontext infrage stellen und wann es vielleicht besser ist, explizit diese Ungleichverhältnisse so lange explizit zu benennen, bis sie sich ändern. Was macht es also beispielsweise für einen Sinn, von einem Präs_identinnenzimmer zu sprechen/schreiben, wenn diese statushohe Position immer mit einem Mann besetzt ist? In solchen Fällen kann es strategisch sinnvoller sein, die Männlichkeit dieser Position und des Zimmers explizit zu machen in einem Text, der beispielsweise ansonsten durchgängig x-Formen benutzt. Gerade der Wechsel der Formen könnte hier also eine Aufmerksamkeit an einer Stelle schaffen, die ansonsten vielleicht nicht auffallen würde.

Akademische Titel (und deren Abkürzungen)

Im universitären Kontext werden in Dokumenten und im Schriftverkehr häufig akademische Titel, meistens in Form von Abkürzungen, verwendet. Personen werden außerdem oftmals mit der Nennung ihres akademischen Titels direkt angesprochen. Deshalb ist die Frage naheliegend, wie auch diese Titel und ihre Abkürzungen antidiskriminierend verwendet werden können. Warum wird z.B. ein ganzes Studienprogramm im deutschsprachigen Raum (M.A.-Studiengänge) in der Langform mit einem Begriff bezeichnet und benannt, der mit den Bedeutungen ‚etwas zu meistern oder ‚Herr über etwas zu sein‘ starke kolonialistische Konnotationen aufweist? Was sagt das über akademische
Wissensproduktion aus und das, was in dieser kritisch reflektiert und was einfach nur weiter re_produziert wird?
Die neuen Bachelor- und M.A.-Abschlüsse können z.B. ganz einfach mit B.A. und M.A. bezeichnet werden, ohne dabei die konventionalisiert männliche Form der ausgeschriebenen Varianten sowie die kolonial-rassistischen Assoziationen
und Kontinuitäten im Falle von M.A. zu wiederholen. Die unten stehende Tabelle bietet weitere Varianten an:

tabelle seite 36

Reflexion von Barrieren

„Die Umwelt soll so gestaltet sein, dass sie die Bedürfnisse aller Menschen berücksichtigt. Keine Personengruppe soll aufgrund einer bestimmten Gestaltung von der Nutzung ausgeschlossen sein.“
(Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit, online unter www.barrierefreiheit.de)

Der Begriff ‚Barrierefreiheit’ benennt den Versuch, z.B. Räume und Kommunikationswege zu schaffen, die für alle uneingeschränkt zugänglich sind, während der Begriff ‚Barrierearmut’ stärker daran denken lässt, dass Räume und Kommunikationswege nie ganz barrierefrei sein können, sondern es sich immer nur um Versuche handelt, Hindernisse abzubauen, die deshalb immer auch noch vorhanden sein können.

Barriere-reduzierende Sprachhandlungen berücksichtigen also unterschiedliche Kommunikationskompeten-zen, versuchen Sachen so auszudrücken, dass sich möglichst viele Personen angesprochen fühlen, und hören genau hin, um die Bedürfnisse unterschiedlicher Personen für Kommunikationsformen aufzunehmen. Dazu gehört es, nicht bestimmte Kommunikationsformen und -möglichkeiten vorauszusetzen, sondern in Seminar- und Beratungssituationen immer wieder respektvoll nach den Wünschen und Bedürfnissen für Kommunikationsformen zu fragen und diese dann entsprechend zu organisieren.

Die verschiedenen im vorherigen Kapitel vorgeschlagenen veränderten Sprachformen sind beispielsweise für Textvorleseprogramme verständlich und werden als Unterstriche und Sternchen vorgelesen.