Wie entscheide ich, wann und wo ich Sprachhandlungen wie verändere? D.h., welche Sprachformen wähle ich wann und wo aus?
Zwei Grundannahmen
Es gibt nicht eine bestimmte Form, die ‚alle‘ (im Sinne von alle Personen) meint und mit der ‚alle‘ angesprochen sind. Das liegt daran, dass ‚alle‘ auch stets ‚prototypisch assoziiert‘ wird, d.h. mit bestimmten, nicht ‚alle‘ einschließenden Merkmalen verknüpft und verwendet wird – in Kapitel 1 und 6 geben wir weitere Beispiele dafür. Noch einmal: Das muss mir nicht bewusst sein beim Sprechen und Schreiben, zumeist ist gerade das Gegenteil der Fall: Es gibt keine neutralen Assoziationen zu ‚alle‘. → Strukturelle Diskriminierungen realisieren sich u.a. gerade dadurch, dass sie vorgeben, sie wären neutral, pseudoneutral nennen wir das hier. Um strukturelle Diskriminierungen wahrzunehmen und zu verändern, ist es daher notwendig, Personen und Personengruppen in Bezug auf in einer Situation relevante strukturelle Diskriminierungen und → Privilegierungen möglichst genau und differenziert zu benennen. Das einzuschätzen ist häufig schwierig und ein nicht abschließbarer Reflexionsprozess. Nur weil etwas auf der Oberfläche nicht diskriminierend erscheint, nur weil viele es kontinuierlich so sagen, nur weil niemand sich dagegen wehrt, heißt das nicht, dass es nicht diskriminierend sein kann und ist!
Es gibt nicht DIE eine richtige → interdependent antidiskriminierende Sprachform (vgl. Kapitel 1). Es ist vielmehr notwendig, sich kontinuierlich mit diskriminierenden Sprachhandlungen zu beschäftigen und nach sich selbst und andere herausfordernden, kreativen Neuerungen zu suchen, sie auszuprobieren, mit anderen zu diskutieren, die eigenen Wahrnehmungen zu hinterfragen und das Sprechen und Schreiben immer wieder zu verändern.
War es für dich schonmal schwierig die Kreuzchen zu machen? Hast du dir auch schon Alternativen beim Ausfüllen gewünscht? Hier der Versuch kleine Ver_änderungen loszudenken.
Wenn ich Personen sprachlich benennen will, stelle ich mir zuerst folgende Fragen:
- Will ich, dass durch meine Sprachhandlungen möglichst viele Personen mit möglichst vielen unterschiedlichen → Positionierungen, also bezogen auf Diskriminierungen, angesprochen werden können/sich potentiell angesprochen fühlen können? Oder will ich ganz spezifische Personen und Personengruppen ansprechen und warum diese und andere nicht?
- Will ich konkrete soziale oder gesellschaftliche Verhältnisse benennen? Will ich mich auf rechtliche und verwaltungstechnische Normen beziehen, die z.B. → ZweiGenderung herstellen (also die Idee, es gäbe nur ‚Frauen‘ und ‚Männer‘ als unhintergehbare, feststehende Norm). Solche → zwangszweigendernden Angaben sind z.B. aus den Immatrikulationsunterlagen bekannt, wo angegeben werden muss: ‚Geschlecht: weiblich oder männlich‘, was auch in den Fotografien dieser Broschüre wiederaufgenommen und hinterfragt wird.
- Will ich die antidiskriminierenden, → empowernden Selbstbenennungen von Personen verwenden, die diese auch für privilegiert Positionierte als Benennungsmöglichkeiten anbieten, um sie direkt anzusprechen oder über sie zu reden? Will ich diese Benennungsformen auch selbst respektieren und wiederaufnehmen, z.B. die Benennung → Schwarze Deutsche als von Schwarzen Personen eingeführte, empowernde Selbstbezeichnung, die diese auch von anderen, Nicht-Schwarzen als Benennung für sich fordern?
- Welche Personen spreche ich mit meinem Text oder Redebeitrag an? Adressiere ich konkrete Personen, will ich Personengruppen differenziert nach ihrer spezifischen konkreten Diskriminierung, die relevant ist für das, was ich sagen/schreiben will, benennen oder eine möglichst große Gruppe? Wie sind diese konstituiert? Wann ist die Diskriminierung für das, was ich sagen will, relevant und wann nicht?
- Wie kann ich mein Sprechen und Schreiben so gestalten, dass die Zielpersonen sich davon angesprochen fühlen können? Dazu zählt auch, sie nicht als ‚extra‘ zu behandeln. Diese Frage stellt sich z.B. in den folgenden Situationen an der Universität:
Warum höre ich als → trans_x_te Person so selten ‚Liebe Trans_x_te‘, warum als Inter*Person so selten „Liebe Inter*Personen“? Wo können sich bspw. Trans*- und_oder Inter*Personen wiederfinden in einer Anrede wie ‚Liebe Damen und Herren‘?
Warum muss ich als eine durch → Rassismus diskriminierte Person ständig alle Beispiele für mich übersetzen, da sie sich implizit ausschließlich auf → weiße Lebensrealitäten beziehen? Warum muss ich das auch als eine durch beHinderung diskriminierte Person kontinuierlich leisten, da sich die Beispiele alle auf nicht-beHinderte Lebensrealitäten beziehen? Wie kann ich es vermeiden, dass Personen durch Beispiele in Vorträgen, Seminaren oder Artikeln diskriminiert werden? Welche Lebensrealitäten und Personen werden z.B. ausgeschlossen, wenn betont wird, dass sich die Bildungsabschlüsse von Frauen wegen langer ‚Familien-Pausen‘ nicht auszahlen?
Warum muss ich als gesellschaftlich über Lautsprachenormen beHinderte Person kontinuierlich einfordern, dass meine Kommunikationsform in Gebärden Berücksichtigung findet? Warum ist es meine Aufgabe, mich darum zu kümmern, dass Seminarfolien für mich als blinde Person les_hörbar sind, oder dass Exkursionen für mich als auf einen Rollstuhl angewiesene Person in passenden Bewegungsformen stattfinden?
Warum werde ich als Trans*- und_oder Inter*Person in Verwaltungsvorgängen ständig dazu aufgefordert, meinen ‚eigentlichen‘ oder meinen früheren Namen und Personenstand anzugeben?
Warum spielen meine Feiertage und Rituale als muslimische Person so gar keine Rolle im Universitätsalltag – außer wenn es um ‚ausgefallene‘ und ‚abweichende‘ Beispiele geht? Warum ist nicht freitags arbeits- und schulfrei, sondern sonntags?
An welche Feiertage wird gedacht, wenn im Dezember überall ‚Schöne Feiertage‘ gewünscht werden? Wie viele denken dabei an Chanukka? Warum ist nicht Samstag der wichtigste und potentiell freie Tag der Woche, an dem z.B. keine Blockseminare stattfinden können – oder dies zumindest erst mal bei den Teilnehmxs erfragt werden muss?
Warum ist es möglich, mich als gesellschaftlich beHinderte Person kontinuierlich auszuschließen aus Seminarinteraktionen, indem bestimmte Kommunikationsnormen, wie mündliche Gruppengespräche oder Chats im Internet, gesetzt werden, denen ich nicht einfach so Folge leisten kann? Welche Personen stelle ich mir als → ableisierte und → nicht-migratisierte Dozentx in meinem Seminar vor, wenn ich die Teilnehmxs bitte, etwas laut vorzulesen (und dabei keine Einschränkungen in visuellen Möglichkeiten wahrnehme) oder etwas Schriftliches zu formulieren (und nicht darüber nachdenke, dass Personen auch unterschiedliche Bezüge, Ängste, Möglichkeiten und Zugänge zur Verwendung von Schriftsprache haben können)?
Wie kann ich es als Lehrx vermeiden, Personen und Personengruppen aus dem Kanon (in meinen Literaturlisten, meinen Zitierungen,meinen Verweisen etc.) auszuschließen – oder sie als ‚extra‘ und ‚zusätzlich‘ herzustellen? Um welche Personen geht es z.B. in einer Seminarreihe zu Feministischer Theorie, wenn in einer extra Sitzung das Thema ‚Schwarzer Feminismus‘ eingeplant wird? Welche Form von Feminismus ist es in den anderen Teilen des Seminars? Und welche Namen und Texte stehen dann nahezu universalisierend für ein bestimmtes Verständnis von Feminismus und werden so wiederum vereinheitlicht?